Heute, an einem der wenigen Sonnentage im April 2001, sitze ich
auf meiner Gartenliege auf unserer Terrasse, wo wirnun
schon seit 33 Jahren leben, und will gerade Erinnerungen an die
"alte" Zeit auf Lesmona aufkommen lassen, da bemerke
ich den "Flugverkehr" direkt vor meiner Nase rund um
unser Vogelhaus herum. Die Bürschchen lassen sich kein bißchen
durch mich stören, sondern tun so, als gäbe es mich
nicht: die Rotkehlchen, Amseln, Drosseln, Meisen, Spatzen und
wie sie alle heißen. Eine prächtige ausgewachsene Taube
stolzierte auch gerade über den Rasen und zwei kleine Türkentauben
lärmen auf dem Dach herum.
Lesmonas Umgebung war wunderschön denke ich so bei mir, aber
hier hast Du es ja auch gar nicht so schlecht. So im Sonnenschein
und mit den Vögeln im schon sein Frühjahrsgesicht zeigenden
Garten wünsche ich mir, daß mir dieses kleine Paradies
bis ans Ende meiner Tage erhalten bleiben möge und nichts
dazwischenkommt, wie meine Mutter immer sagte. Automatisch
fällt mir der Kugelblitz wieder ein, der letztes Jahr bei
etwas weiter entfernten Nachbarn einschlug und der großen
Schaden anrichtete. Trotz sofortigen Anrückens der Feuerwehr
brannte der Dachstuhl vollkommen aus und das Untergeschoß
wurde allein schon durch das Löschwasser total beschädigt.
so daß die Leute ausziehen mußten, um das Haus von
Grund auf sanieren zu lassen. Nach einigem Ärger mit der
Versicherung sind sie jetzt erst dabei, wieder einzuziehen und
neue Ordnung in ihr Lehen zu bringen. Durch den Schlag sind bei
der Gelegenheit alle Kinder ausgezogen und stehen inzwischen auf
eigenen Beinen. Etwas Gutes hatte die Sache denn doch, aber: "Das
ist alles ganz schön an die Substanz gegangen" sagte
mir die Mutter einer ehemaligen Klassen- kameradin meines Sohnes,
die hier die Geschädigten waren. Und das glaube ich ihr aufs
Wort. Solches und Ahnliches muß meine Mutter gemeint haben,
wenn sie den Spruch vom "Dazwischenkommen" zitierte.
Wie ein roter Faden spannt sich dieses "Dazwischenkommen"
durch ihr und damit auch durch unser aller Leben. Als sie gerade
geheiratet hatte und es an die Familiengründung ging, kam
erst einmal der Krieg dazwischen. Vater und alle Männer des
Hofes von Lesmona, die gesund und brauchbar waren, wurden eingezogen.
Tapfer übernahm sie neben Opa und meiner Tante alle "Männerarbeiten"
notwendigerweise mit. Ganz nebenbei mußten dann ja auch
noch drei Kinder versorgt werden, die ebenfalls nach ihrem Recht
schrien. Das einzig Gute war, daß wir durch die Landwirtschaft
und den großen Obst- und Gemüsegarten, der zu Lesmona
gehörte und gegenüber auf der anderen Straßenseite
(Am Kapellenberg) lag, nie Angst haben mußten zu verhungern.
Es war zwar stets was zu beackern, aber dadurch auch immer was
zu essen da. Wenn ich noch an die frisch vom Strauch gepflückten
Tomaten, Erdbeeren, Stachel-, Brom- und Himbeeren denke, läuft
mir heute noch das Wasser im Mund zusammen. Wurzeln, so aus der
Erde gerupft, nur ein bißchen abgewischt, waren ein Gedicht,
wie auch Kohlrabi, frische Erbsen usw. usw.
Dazu hatte mein Gärtner-Onkel Heini ein herrliches Pfingstrosenbeet
neben dem Gewächshaus angelegt und ganz unten, am anderen
Ende des Gartens, gab es eine ebenso schöne große Fliederecke
in allen nur möglichen Farben und Sorten. Nach Burgdamm,
wo meine Mutter herkam, fuhren wir - damals noch in mit Birkenzweigen geschmückter
Kutsche -
zu Omas
Geburtstag und zu Pfingsten stets mit Riesen- Flieder- oder Pfingstrosensträußen
bewaffnet, die dort auch sehr bejubelt wurden. Und an ein ganz
wunderschönes Azaleenbeet erinnere ich mich noch, das mein
Onkel zwischen dem späteren Eingang zum Bunker (2) und dem Haus Lesmona errichtet
hatte. Ein Ableger davon wächst heute noch in unserem Garten
An der Aue. Bei dem Anblick dieser Azalee und überhaupt bei
allem, was schön blüht und in seiner ganzen Pracht erstrahlt,
denke ich immer an ihn, meinen Lieblingsonkel und wie gut er mit
Blumen und Ptlanzen aller Art umgehen konnte. Deshalb nehme ich
auch wohl so gern an den Gärtnerfahrten vom Vegesacker Stadtgarten-
und Verschönerungsverein teil, wo dafür gesorgt wird,
daß wir Schlösser, Schloßgärten und schöne
Park- und Gartenanlagen in Hülle und Fülle sehen. Ende
Juni/Anfang Juli d.J. steht wieder eine solche Fahrt an, die uns
diesmal nach Dänemark führt. Ich freu mich schon auf
die am Rande mitzunehmenden schleswigholsteinischen Wasserschlösser
und dann auf die dänischen Schlösser und Schloßgärten.
Was meinen Onkel betrifft, endete es damit, daß meine Oma
leider irgendwann im
Sommer 1944 -
Ende
Juni soll es gewesen sein - einen
Alptraum hatte und am nächsten
Morgen der Familie erzählte: "Hüt Nacht hätt
Heini mi roopen". Viele Jahre später hat ein
Brief des Feldmarschalls von Lützow bestätigt, daß
er mit ziemlicher Sicherheit genau in
dieser Nacht bei Rückzugsgefechten im Raum Mogilew, wo er
am Nachmittag des
27. Juni 1944 zuletzt lebend gesehen wurde, mit vielen anderen
Kameraden seines
Regiments gefallen ist.
Meine kleine Oma, die ohnehin nur noch im Lehnstuhl von einem
Ort zum anderen getragen werden mußte (sie soll einen schleichenden
Krebs gehabt haben) hat sich zusehends immer mehr und mehr zurückgezogen
und Ende des Jahres 1944 verstarb sie dann ganz still und leise.
So hat das Lehen ihr wohl auch keinen Spaß mehr gemacht.
Ihr "Blumenjunge" war nicht mehr, der ihr immer solch
schöne Sträuße gebunden hatte und dessen Tod sie
nun auch nicht mehr verkraften konnte und wollte.
Und für meine Mutter kam dazwischen, daß mein Vater,
der zwar u.a. auch an der Ostfront gedient hatte, selten einmal
auf Fronturlaub zu Hause war, schließlich und endlich zuerst
in einem amerikanischen Gefangenenlager am Rhein landete und bei
der Aufteilung an die Franzosen ausgeliefert wurde, von wo er
dann erst 1947 aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Und so
ging es dann immer weiter. Immer, wenn gerade etwas gut zu laufen
schien, kam irgend etwas dazwischen. Aber darüber später......
Familie
- Geschwister - (damals auf dem Hof von Lesmona
) 60. Geburtstag des Bruders
Wenn der "kleine" Bruder 60 wird, wirft das Erinnerungen
an ganz früher wieder auf:
Am 08. März 1941 wurde er zu Hause als kleiner Schrumpelopa
geboren (sein Gesicht bestand nur aus Falten und erinnerte an
seinen eigenen Urgroßvater) - sagten jedenfalls seine Mutter und die Erwachsenen
rundherum. Das war aber nur der allererste Eindruck, und im Freien
entwickelte er sich schnell zu einem Knuddelbaby, auf das allerdings
vom ersten Moment an gut aufgepaßt werden mußte, denn
alle Tiere hatten ihm "zum Fressen" gern. Zum Glück
lebte Opa noch, der auf mein Alarmgeschrei hin immer rechtzeitig
mit seinem Handstock zur Stelle war und sowohl den beißenden
Ganter als auch die den Stammhalter auf die Hörner nehmende
Kuh energisch vertrieb.
Wie gut, daß wir in unserer Kleinkindcrzeit unseren Opa
hatten, der sowohl als Kinderhüter (Babysitter würde
man heute sagen) als auch als Hüter des Hauses und Hofes,
also als "Mann für alle Fähie" gut zu gebrauchen
war. Er selber fand es bestimmt nicht so gut, daß er mit
seinem Baugeschäft irgendwann in frühester Hitlerzeit
pleite gegangen war, aber für uns hat er dadurch immer Zeit
gehabt und war derjenige, der stets genau da auftauchte, wo es
brenzlig wurde oder hätte werden können. Oma war stets
drinnen zu erreichen, weil sie durch Krankheit schon recht früh
an den Lehnstuhl gebunden war, aber Opa hatte draußen alles
im Griff. Das war auch gut so, denn alle anderen männlichen
Mitglieder der Familie - unser
Vater, Onkel Heini und später auch Cousin Hans waren eingezogen
und mußten das Vaterland verteidigen. So war es eben damals
zur Kriegszeit und die Familien mußten zusehen, wie sie
sich am besten allein durchschlugen.
Wir hatten aber auch eine ganz tapfere Mutter, die, ohne daß
jemals jemand eine Klage von ihr hörte, zupackte und einfach
alles tat, was getan werden mußte, um ihre Kinder und dazu
noch die Landwirtschaft zu versorgen. Den Eindruck haben wir alle
von ihr in Erinnerung behalten, daß sie eigentlich das ganze
Leben lang pausenlos geschuftet hat. Sie kam Gott sei Dank schon
aus einer großen Familie. Sie hatte noch 12 Geschwister,
unter denen sie zu der älteren Gruppe gehörte, die für
die Jüngeren sorgen mußte. Eine Landwirtschaft mit
Fuhrunternehmen war ihr Zuhause. So war sie wenigstens schon gut
vorbereitet auf die Dinge, die später auf sie zukamen, was
denn auch wohl nur gut so war. Wie hätte es sonst überhaupt
funktionieren sollen im Krieg und auch in der Nachkriegszeit,
als unser Vater noch in der Gefangenschaft war und erst 1947 aus
Frankreich zurück kam. Bis dahin versorgte Mutter alles,
was nach ihr schrie, allein: ob das die Kinder waren, das Vieh,
Haus und Hof, Land und Leute, die in Not waren und an die Tür
klopften. Wenn es sein mußte, wurde eben allein gemistet,
geheut, das Feld bestellt, das Pferd angespannt und eingefahren,
was eingefahren werden mußte. Ich kann mich nicht erinnern,
daß sie jemals krank war - doch
später, ein einziges Mal, als wir Kinder schon größer
waren und sie sich eine Grippe leisten konnte, wie es landläufig
hieß. Was haben wir es doch heute gut dagegen! In Urlaub
fahren -
da war
weder damals für unsere Mutter dran zu denken noch später,
weil eben immer noch Tiere zu versorgen waren und das Geld sowieso
immer knapp war. Solchen Leuten müßte ein Denkmal gesetzt
werden, allein schon für´s Durchhalten in harten Zeiten
Meinen kleinen Bruder habe ich damals -imGegensatz zu meiner Schwester, die
zwei Jahre früher geboren war, also ein Jahr nach mir - mit offenen Armen empfangen. Wir
haben dann auch das Leben lang zusammengehalten in Freud und Leid
und verstehen uns heute noch selbstverständlicher als mit
unserer Schwester. Bei gelegentlichen Launen ihrerseits zwinkern
wir uns nur zu und grinsen in uns hinein. Aber das hat auch alles
seine Gründe.
Unsere Mutter hat mir, als ich schon erwachsen war und selber
ganz tolle Schwangerschaften durchleben durfte, erzählt,
daß alle ihre drei Schwangerschalten fürchterlich waren
und sie von der ersten bis zur letzten Minute fast nur gespuckt
hat. Bei meiner Schwester kam dann noch hinzu, daß sie in
Steißlage und mit der Nabelschnur um den Hals geboren wurde
und die Hebamme taktvollerweise die Bemerkung raushieß:
"Da steckt kein Leben drin - das wird nix". Aber das Entfernen der
Nabelschnur und eine kräftige Tracht Prügel brachten
eben doch Leben rein und machten dieses süße Baby ab
sofort zum Augapfel meiner Mutter. Sie hatte wohl das Gefühl,
es der Hebamme zeigen zu müssen. Beim Toben auf dem Hof mit
Nachbarskindern sehr viele Jahre später hörte ich meine
Mutter mal sagen: "Das hätte die Hebamme mal sehen sollen
von wegen kein Leben drin"!
Für mich bestand nur das Problem, daß ich mich seit
dem Erscheinen dieses "Augapfels", der zudem noch absolut
süß war -
blond
und blauäugig (wie die Verwandten aus Vaters Familie) - zurückgesetzt fühlte und
mit gehöriger Eifersucht reagierte. Das brachte alle anderen
Verwandten auf den Plan, die meinten, mich trösten zu müssen
und sich nach Kräften um mich kümmerten (siehe Cousine,
Tante, Opa...). Denen bin ich heute noch dankbar, daß sie
mich ablenkten und gut beschäftigten. Sonst wäre wohl
die Gier nach der Beachtung durch meine Mutter unermeßlich
geworden.
Da kam dann die Geburt meines Bruders zwei Jahre später wie
eine Erlösung für mich. Das war sofort mein Augapfel
und wurde von mir betüdelt und umsorgt und ich als die Älteste
habe gern den Aufpaßdienst übernommen. Das ging zumindest
so lange bis in die Baracke, die von den Soldaten errichtet worden
war, die zur Kriegszeit in unserem Haus und auf Lesmona stationiert
waren, Flüchtlinge aus dem Osten einzogen, die einen im Alter
zu meinem Bruder passenden Sohn hatten, genannt Bubi. Der wurde
ein guter Spielkamerad für meinen Bruder, der seitdem Bübel
genannt wurde. Und diese beiden - Bubi und Bübel - waren wie Max und Moritz, trieben ihre Scherze,
spielten zusammen und gingen dann auch Hand in Hand zur Schule.
Erst Jahre später - durch
die verschiedenen Schulzweige - wurden
die beiden dann wieder getrennt, verstehen sich aber heute hei
Klassentreffen und dergleichen noch gut und erinnern sich gern
an die Bubi und Bübel-Zeit". Und: Die "große
Schwester" und der "kleine Bruder" konnten sich
so auf ganz natürliche Weise voneinander abnabeln und eigene
Wege gehen. Für die mittlere Schwester war nebenan auch eine
gleichaltrige Tochter dabei, die sich zumindest für einige
Jahre prächtig verstanden, in eine Klasse gingen und auf
Lesmona und umzu Versteck und Kriegen, Räuber und Gendarm
und alle anderen Kinderspiele spielten, die damals "in"
waren und die im Kreise der Nachbarschaft und etlicher Klassenkameraden,
die sich dazu gesellten, eine Menge Spaß brachten und uns
allen schöne Erinnerungen hinterlassen haben.
Per Zufall traf ich gerade mitten auf dem Vegesacker Grünmarkt
die älteste Tochter der Flüchtlingsfamilie aus der an
unseren Hof grenzenden Baracke, die ihr Opa schließlich
und endlich dem Staat abgekauft hatte, nachdem alle anderen Baracken,
die von den Nachrichtenleuten auf Lesmona aufgestellt, später
wieder abgerissen worden waren. Wir kamen automatisch wieder auf
die alten Zeiten zurück, nachdem ich ihr von meinem Kursus
erzählte, in dem ich gerade meine Geschichte aufarbeite.
Sie mußte lachen, als ich Bubi und Bübel erwähnte.
"Und weißt Du noch", fiel ihr ein, "wir wurden
die Stricklieseln genannt und Inge und Annegret die Matschlieseln
, weil die beiden am liebsten im Matsch klehten und wir an den
Stricklieseln gar nicht aufhören konnten. Sie ist zwei Jahre
älter als ich, und wir waren nur ganz kurze Zeit einmal in
einer Klasse zusammen, ihr fehlten dann durch Krankheiten viele
Schulstunden und sie ging lieber früher ab von der Schule
und wurde Verkäuferin. während ich noch die Mittelschule
und anschließend die Höhere Handelsschule absolvierte,
bevor ich in den Beruf ging. Die Baracke hat es dann irgendwann
- sehr viel später
- nicht mehr gegeben.
Alle Kinder waren aus dem Nest, die Eltern verzogen, nur Oma und
Opa Albrecht hielten darin aus, solange es ihnen die Gesundheit
erlaubte. Heute sind auch sie nicht mehr. Sie waren aber sehr
liebe nette alte Leute, zu denen jeder gern mit seinen Sorgen
und Nöten kommen konnte und die bei allen, die sie kannten,
einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
Aber das passierte alles erst nach dem Kriege. Da gibt es noch
einige dramatische Sachen, die mir aus der Kriegszeit in unauslöschlicher
Erinnerung geblieben sind. Wie schon erwähnt, war auf Lesmona
der Nachrichtendienst stationiert - so auch bei uns auf dem Hof im Balkonzimmer.
Unsere damaligen Gegner, die Engländer und die Amerikaner,
hatten ganz offensichtlich davon Wind bekommen, denn Lesmona wurde
ein begehrtes Bombenziel. Unter dem Höhenzug von Lesmona
befand sich ein Bunker, der einen Eingang vom Hof aus hatte, einen
Geheimgang vom Haus Lesmona selber aus und einen Ausgang zur Lesum
hin. Bei Fliegeralarm rannte natürlich alles in Richtung
Bunker und man merkte bei solchen Gelegenheiten erst, wie viele
Leute es in St. Magnus zu der Zeit doch schon gab. Auch unser
Haus hatte einen riesigen Keller, der normalerweise als Lagerraum
für Kohlen, Kartoffeln, Rüben, Obst, Gemüse, Eingewecktes
und alles diente, was für einen Wintervorrat Platz brauchte.
Aber in den Bomben- alarmzeiten waren auch bei uns im Keller lange
Reihen von Klappbänken aufgestellt, auf denen sich die engere
Nachbarschaft mit vielen Kindern tummelte. Wer mochte, wurde von
meiner Mutter mit heißer Milch versorgt, und die Eltern
nahmen es für ihre Kinder dankbar an. Seit Anfang 1944 ging
ich zur Schule und weiß noch, wie schweißgebadet vor
Angst ich bei den ersten Alarmtönen losrannte, um so schnell
ich nur konnte in den rettenden Keller bzw. Bunker zu gelangen.
Einmal -
mein
Vater mußte wohl Fronturlaub gehabt haben - kam er mir schon an der Pforte entgegen,
warf mir seine Soldatenjacke über, und wir rannten gemeinsam
im Splitterhagel in den Bunker. Die andern waren schon in Sicherheit,
denn sie gingen ja noch nicht zur Schule. Als die Luft wieder
rein war, stellte man fest, daß genau über dem Bunker
ein tiefes Kraterloch klaffte. Der Bunker war Gott sei Dank tief
genug, und es hat keine Toten und Verletzten gegeben.
Ein anderes Mal waren die Flugzeuge schon so nahe, daß wir
nur schnell noch in den eigenen Keller wollten. Meine Oma wurde
wie immer in ihrem Lehnstuhl getragen und meine Cousine, die mit
einem Gelenkrheumatismus, den sie sich als BDM-Schülerin
zugezogen hatte, nach Hause gekommen war, sollte auf einer anderen
Trage in den Keller verfrachtet werden. Und als wir uns alle noch
im Flur von der Kellertür befanden, gab es einen ohrenbetäubenden
Knall, und wir wurden allesamt von einem gewaltigen Sog die Treppe
hinuntergezogen und landeten dort unten im Pulk, was aber unser
Glück war, denn zur gleichen Zeit wurden oben Fenster und
Türen aus den Angeln gerissen und flogen sich gegenseitig
um die Ohren. Bei Schadensaufnahme wurde dann festgestellt, daß
die Bombe, die unser Haus hätte treffen sollen, einen tiefen
Krater in die Bergstraße gerissen hatte, die heute "Am
Kapellenberg" heißt und mit dem alten Kopfsteinpflaster
noch fast genau so aussieht wie früher. Ein weiteres Kraterloch
wurde dann noch nebenan in Nachbarsgarten entdeckt. Also muß
es wohl wirklich einer auf uns abgesehen gehabt haben! Wir aber
waren zwar alle mit einem gehörigen Schrecken, aber sonst
unbeschadet davongekommen. Mit anderen Worten: Wir hatten alle
einen guten Schutzengel - oder
sollten wir uns alle bei dem Piloten da oben bedanken, der die
Bomben lieber in Gärten, Straßen und Berge versenkte
als direkt auf uns arme Menschlein zu zielen ?
Begegnung
mit einem besonderen Menschen - oder
auch: Gedanken zur eigenen Geburt
Es war am 7. Februar d.J., meinem Geburtstag. Ich wollte mich
gerade schnell noch mal "aufs Ohr legen" (wie mein Mann
immer so schön sagt), um am Abend für die Feier und
die Gäste gerüstet zu sein. Da klopfte es an der Haustür
und draußen stand als Überraschungsgast: meine Cousine
aus Amerika. "Das kann doch wohl nicht wahr sein", entfuhr
es mir, denn vor ein paar Tagen hatten wir noch miteinander telefoniert,
und es gab weit und breit angeblich keinen Flug mehr nach Deutschland.
Sie war gerade zurückgekommen von einem dreiwöchigen
Urlaub in Mexico und wollte sich eigentlich erstmal wieder in
Port Angeles, ihrem derzeitigen Domizil, akklimatisieren. Und
nun stand sie da -
braungebrannt,
lachend und gut aussehend. Sie hatte über ihren Neffen, der
bei der Lufthansa Canada arbeitet, einen Restplatz ergattert,
dazu noch sündhaft billig. Was blieb ihr anderes übrig
...
neugierig
auf die Ansammlung von Verwandten und alten Bekannten, die sich
an solch einem Geburtstag immer einfinden, war sie schließlich
auch. Da war sie nun und traf gleich einen gemeinsamen Punkt: Die Schneeglöckchen,
von denen die ersten, die den Platz an der Sonne haben, sie vor
dem Haus bereits begrüßten, und alle übrigen auch
ganz keß ihre Nasen hervorstreckten. "Ach wie schön",
rief sie, "die Schneeglöckchen blühen -wie zu Deiner
Geburt"! Nun hatte ich das schon öfter im Laufe des
Lebens gehört, aber eben nicht immer, denn in kalten
Wintern blühen sie eben nicht schon am 7. Februar, sondern
je nach Temperatur erst später. Also muß der Winter
1938 recht mild gewesen sein, denn zu meiner Geburt brachte meine
Cousine meiner Mutter einen dicken Schneeglöckchenstrauß,
selbstgepflückt auf Lesrnona, ins Krankenhaus. Da, auf dem
Hof, dem ehemaligen Gutsmeierhaus von Lesmona, wohnten damals
meine allernächsten Familienangehörigen: Opa, Oma, Vater,
Mutter, Onkel, Tante, Cousin, Cousine (eben diese), eine Menge
Kleinvieh (Hühner, Emiten, Gänse, Schafe, ein paar Kühe
und ein Pferd, das Puppe hieß und uns allen eine ganze Menge
von Jahren treue Dienste geleistet hat). Dazu noch ein Zwinger
voller Schäferhunde, die mein Lieblingsonkel Heini züchtete,
der leider im Krieg blieb (meine Cousine und ich wollten immer
noch mal nach Stalingrad, von wo aus das letzte Lebenszeichen
von ihm kam), und mit ihm verschwanden auch irgendwann die Schäferhunde.
Dieser Onkel war es auch gewesen, der als gelernter Gärtner
die damals freie Hofmeierstelle auf Lesmona bekam und der für
die Pflege und Instandhaltung des Geländes zuständig
war. Spätet wurde es von meinem Opa und, nachdem mein Vater
1947 aus französischer Gefangenschaft zurückkam, von
diesem übernommen.
Es waren gemütliche Kindheitstage - dort auf dem Hof von Lesmona - geborgen im Schoße der Großfamilie,
umgeben von kuscheligen Tieren und wunderschöner Landschaft.
Und jedes Jahr am 7. Februar werde ich wieder an die blühenden
Schneeglöckchenherge erinnert, die zu meiner Geburt in voller
Pracht gestanden haben sollen! Meine damals dreizehnjährige
Cousine verkündete auf dem Weg zur Schule freudestrahlend
meine Geburt (St. Magnus war zum Glück noch sehr klein) und
daß die Schneeglöckchen blühen!
Tiere in meinem Leben - Schafe auf dem Hof von Lesmona .
In eine Welt mit Tieren wurde ich schon hineingeboren - damals auf dem Hof von Lesmona.
Neben dem Kleingetier, wie Hühner, Enten, Gänse gab
es eine Horde von Schafen. Die meisten davon waren ganz gewöhnliche
Tiere -
eben
Schafe. Bis auf ein einziges. Das mußte mit der Babytlasche
aufgezogen werden, weil die Mutter die Geburt nicht überlebt
hatte. Das hieß von Anfang an "Lämmi", und
das blieb auch so, als es groß und ausgewachsen war. Den "Mix" für die
Babyflasche bereitete meine Mutter zu. aber die Aufgabe des "Stillens"
wurde mir als der Ältesten übertragen, wie ich überhaupt
heute noch das Gefühl habe, daß die Ältesten immer
für alle und alles verantwortlich sind. Aber dem Lamm die
Flasche zu geben, das tat ich jedenfalls gern. Ich fühlte
mich gebraucht und fand es gemütlich, neben einem Tier zu
sitzen und es zu betüdeln. Dieses Lamm war ein kleiner Wildfang,
Es stürzte sich mit Heißhunger auf die Flasche, zerrte
und schubste daran herum (wie es die übrigen Lämmer
mit den Eutern der Mutterschafe taten), so daß ich genug
damit zu tun hatte, ihm die Flasche immer mundgerecht hinzuhalten.
Stolz war ich jedes mal, wenn wir beide die Prozedur heil überstanden
hatten. Manchmal -
wenn
ich es zuließ - verfolgte mich der kleine Nimmersatt bis
in die Küche und verlangte blökend nach mehr. Über
die Einteilung der Portionen verfügte aber meine Mutter,
sonst hätte es auch wohl schon in seinen frühen Wochen
einen Knall gegeben und der Bauch wäre geplatzt.
Das Lamm wurde durch diese Sonderbehandlung anhänglicher
als alle anderen Schafe. Es hat mich als seine Bezugsperson auserkoren
- und basta. Ich war
seine Ersatzmutter. Alle anderen interessierte es gar nicht. Es
verfolgte mich auf Schritt und Tritt, und es mußte immer
jemand Wache stehen, wenn ich zur Schule ging, damit das Lamm
nicht mit in die Klasse kam. Nachdem ich es eines Nachmittags
gewähren ließ, verfolgte es mich bis zum Bäcker,
wartete vor der Tür bis ich wieder rauskam und sprang fröhlich
wie ein kleiner Hund neben mir nach Hause, während die Hunde
draußen auf dem Hof in der Sonne dösten. Die zeigten
überhaupt keine Gelüste, den Hof zu verlassen. Zum Glück,
denn sonst wäre ich wie der Rattenfänger von Hameln
mit den Tieren durchs Dorf marschiert. Beim Bäcker fand man
es so lustig, daß ich mit dem Lamm dort erschien - das tat sonst keiner und das war
noch nie passiert -
daß
ich ab sofort meine Bäckerwege immer in "Schafs"
Begleitung machte. Dann passierte es eines Tages - bei wunderschönem Frühlingswetter
und oft enstehender Bäckereitür -. daß meine dreiste Begleitung mit in
den Laden kam und -
einem
dringenden Bedürfnis folgend - einen dicken Ködelhaufen mitten in den
Laden setzte. Da war "Schluß mit lustig" und ab
sofort durfte mein Lieblingsschaf den Hof nicht mehr verlassen.
Eigentlich schade, denn richtig gemütlich waren die Einkaufswege
in Schafsbegleitung!
Nur ein Wispern in den Bäumen
Es war einmal ein Märchen, das sich um die Jahrhundertwende
- na, ein wenig später
- auf Lesmona abspielte.
Marga Berck hat es in ihrem Büchlein "Sommer in Lesmona",
das vorwiegend Mädchenbriefe an die beste Freundin enthält,
festgehalten. Es handelt sich um die bittersüße Liebesgeschichte
zwischen ihrem englischen Halb- Vetter Percy und ihr (in dem Buch:
Magda). Die Namen sind Pseudonyme, denn beide stammten aus berühmten
Bremer Kaufmannsfamilien mit Abzweigungen nach England und in
die weite Welt, und das wollte Magda damals nicht preisgeben.
Inzwischen gibt es aber einen weiteren Lesmona -Band von Bernd
W. Seiler (Joh. Heinrich Döll Verlag) unter dem Titel "Es
begann in Lesmona -
Auf
den Spuren einer Bremer Liebesgeschichte",in dem, wer will, sich genauestens
aufklären lassen kann über alle Beteiligten mit Stammbäumen
bis in den letzten Winkel und Familienfotos und Fotos von Geschäfts-
und Wohnhäusern eben der weitverzweigten und untereinander
verwandt und verschwägerten Bremer Kaufmannsfamilien.
Das alles ist sehr interessant, aber mir haben die schlichten
und einfachen Liebesbriefe am besten gefallen. Als ich sie das
erste Mal las, war ich selbst ein junges Mädchen und sehr
empfänglich für die zarten Töne und noch mehr für
die traurigen. Verstehen konnte und wollte ich wohl nicht, weshalb
sie (die Magda) den Mann, den sie liebte und der auch sie heiß
und innig liebte, nicht nahm und stattdessen aus Vernunftgründen
sich mit einem um etliche Jahre älteren angeblich "passsenderen"
Mann verlobte, und ihn schließlich nach herzzerreißenden
Wiedersehensgeschichten mit Percy in England auch heiratete. Sie
soll zwar später eine sehr interessante Ehe, aus der drei
Kinder hervorgingen, mit dem Direktor der Bremer Kunsthalle zwischen
Kunst, Kirche, Kindern und eingehüllt in einen großen
Freundeskreis geführt haben, aber Percy, ihre große
Jugendliebe, nahm sich im Alter von 40 Jahren in Amerika das Leben.
Als ich das irgendwann einmal erfuhr, kamen mir die Tränen,
und seitdem ist Lesmona für mich trotz aller Schönheit
und vieler guter Erinnerungen mit einem Hauch von Trauer und Tragik
verbunden. Jedes Jahr wieder, wenn in Knoops Park der "Sommer
in Lesmona" abläuft, denke ich, wie bestimmt viele andere
Menschen auch, an "Magda und Percy" und daß es
schön ist, daß wenigstens heutzutage - viele Jahre nach ihrem Tod und vielleicht,
weil sie im Leben nicht zusammenkommen konnten - ihre ureigene Geschichte wieder autlebt und
wir alle sie -
ihnen
zu Ehren -
in schönster
Umgebung bei herrlicher Musik und wunderbarer Stimmung miterleben
dürfen.
Und wer genau hinhört und ein "Faible" dafür
hat, macht es wie meine Cousine und ich, wandert durch den Park,
sucht die Stellen, von denen er meint, daß eben dort Percy
und Magda ihre Liebe erlebt haben, und wenn er Glück hat,
kommt ein Windstoß und es wispert in den Baumkronen. Wenn
das kein Zeichen ist! Wettemt daß heute ihre Seelen dort
vereint sind, wo alles einmal so schön begonnen hat!
Trauer und Tragik
Zu dem Hauch von Trauer und Tragik, der Lesmona umweht, paßt
eine Geschichte, die wir alle später einmal erlebten, als
Lesmona, nachdem es etliche Jahre zur Lungenheilanstalt umfunktioniert
und der Hof durch hohe Zäune vom eigentlichen Haus Lesmona
abgetrennt war, anschließend Auffangstation für sog.
schwererziehhare Jugendliche wurde. Von diesen Jugendlichen bekam
hin und wieder ein junger Mensch, der- schon stark genug war,
die Gelegenheit, unten bei uns in der Landwirtschaft mitzuhelfen.
Wie ich mich erinnere, taten diese Jungen das ausgesprochen gern.
Erstens konnten sie zeigen, daß sie schon zu etwas nütze
waren und zweitens hatten sie Familienanschluß, das, was
sie häufig im eigenen Elternhaus vermißten. So saßen
sie denn mit am Tisch und erzählten ihre Geschichten. Da
konnten einem schon mal die Tränen kommen. Ganz besonders
erinnere ich mich an einen netten jungen Mann der Klaus hieß.
Nachnamen gab es damals nie zu diesen jungen Leuten oder- ich
erinnere mich nicht mehr. Dieser Klaus sah gut aus, war für
sein Alter schon groß und stark (er muß wohl so 14,
15 oder 16 gewesen sein) und kam aus einer Seemannsfamilie, von
der nur noch die Mutter übrig geblieben war. Sie mußte
sich allein durchschlagen und kam wohl mit ihrem Sohn nicht mehr
klar. Auf keinen von unshat
er jedenfalls jemals einen schwer erziehbaren Eindruck gemacht.
Gut zupacken konnte er in der Landwirtschaft, sah von sich aus,
was getan werden mußte, war zutraulich, froh, daß
er mit am Familientisch Platz nehmen durfte und für ihn hätte
es so weiter gehen dürfen. Er konnte gut erzählen und
hat zu seiner Zeit richtig Schwung in die Familie gebracht. Für
mich war er wie ein weiterer "kleiner Bruder" und da
mein eigener Bruder schon in der Lehre und auf Montage war, war
mein Vater für jede Hilfe dankbar, die von "oben"
kam, d.h. aus dem Hause Lesmona. Leider war es so, daß nach
mehr oder weniger kurzer Zeit diese Jungen von Amts wegen eine
Lehrstelle, einen Ausbildungsplatz o.ä. zugewiesen bekamen
und sie uns wieder verlassen mußten, oft schweren Herzens.
Ganz besonders dieser Klaus. Man hatte für ihn einen Platz
auf einem Schiff gefunden, das nach Australien ging. Nach seiner
Herkunft war das ja auch naheliegend, und eigentlich wollte er
auch wohl gerne zur See fahren. Aber er hatte gerade so etwas
wie eine Heimat bei uns gefunden und fühlte sich wohl. Er
hat meinen Vater gefragt, ob er nicht einfach dableiben und Bauer
werden könnte. Aber das ging nun ganz einfach nicht. Mein
Vater hatte zwar selbst eine landwirtschaftliche Ausbildung hinter
sich, aber einen Ausbildungsbetrieb hatte er nun wirklich nicht.
Außerdem war wohl mein Vater genau wie der Leiter des Heimes
fest davon überzeugt, daß der Junge schon "auf
dem richtigen Weg" sei bei der christlichen Seefahrt. Also
gab es einen tränenreichen Abschied mit dem Versprechen,
mal eine Karte aus Australien zu schicken und überhaupt was
von sich hören zu lassen. Zu unser aller Schmerz und Entsetzen
kam dann sehr viel später vom Kapitän des Schiffes die
Nachricht, daß der Junge sich eine ansteckende Krankheit
zugezogen hatte und aus lauter Verzweiflung nach Ablegen des Schiffes
in Australien über Bord gegangen sei. Er muß wohl keinen
anderen Ausweg mehr gesehen haben. Es hat uns alle schrecklich
mitgenommen und mit ihm ging dann auch die Ara der Hilfe von "oben"
zu Ende. Das Heim wurde danach irgendwann aufgelöst, und
es begann wieder eine ganz andere neue Ära Lesmona.