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 Letzte Aktualisierung dieser Seite am: 26.5.2001

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Erinnerungen

Von Wilhelma Fleischer


Heute, an einem der wenigen Sonnentage im April 2001, sitze ich auf meiner Gartenliege auf unserer Terrasse, wo wir nun schon seit 33 Jahren leben, und will gerade Erinnerungen an die "alte" Zeit auf Lesmona aufkommen lassen, da bemerke ich den "Flugverkehr" direkt vor meiner Nase rund um unser Vogelhaus herum. Die Bürschchen lassen sich kein bißchen durch mich stören, sondern tun so, als gäbe es mich nicht: die Rotkehlchen, Amseln, Drosseln, Meisen, Spatzen und wie sie alle heißen. Eine prächtige ausgewachsene Taube stolzierte auch gerade über den Rasen und zwei kleine Türkentauben lärmen auf dem Dach herum.

Lesmonas Umgebung war wunderschön denke ich so bei mir, aber hier hast Du es ja auch gar nicht so schlecht. So im Sonnenschein und mit den Vögeln im schon sein Frühjahrsgesicht zeigenden Garten wünsche ich mir, daß mir dieses kleine Paradies bis ans Ende meiner Tage erhalten bleiben möge und nichts dazwischenkommt, wie meine Mutter immer sagte. Automatisch fällt mir der Kugelblitz wieder ein, der letztes Jahr bei etwas weiter entfernten Nachbarn einschlug und der großen Schaden anrichtete. Trotz sofortigen Anrückens der Feuerwehr brannte der Dachstuhl vollkommen aus und das Untergeschoß wurde allein schon durch das Löschwasser total beschädigt. so daß die Leute ausziehen mußten, um das Haus von Grund auf sanieren zu lassen. Nach einigem Ärger mit der Versicherung sind sie jetzt erst dabei, wieder einzuziehen und neue Ordnung in ihr Lehen zu bringen. Durch den Schlag sind bei der Gelegenheit alle Kinder ausgezogen und stehen inzwischen auf eigenen Beinen. Etwas Gutes hatte die Sache denn doch, aber: "Das ist alles ganz schön an die Substanz gegangen" sagte mir die Mutter einer ehemaligen Klassen- kameradin meines Sohnes, die hier die Geschädigten waren. Und das glaube ich ihr aufs Wort. Solches und Ahnliches muß meine Mutter gemeint haben, wenn sie den Spruch vom "Dazwischenkommen" zitierte.

Wie ein roter Faden spannt sich dieses "Dazwischenkommen" durch ihr und damit auch durch unser aller Leben. Als sie gerade geheiratet hatte und es an die Familiengründung ging, kam erst einmal der Krieg dazwischen. Vater und alle Männer des Hofes von Lesmona, die gesund und brauchbar waren, wurden eingezogen. Tapfer übernahm sie neben Opa und meiner Tante alle "Männerarbeiten" notwendigerweise mit. Ganz nebenbei mußten dann ja auch noch drei Kinder versorgt werden, die ebenfalls nach ihrem Recht schrien. Das einzig Gute war, daß wir durch die Landwirtschaft und den großen Obst- und Gemüsegarten, der zu Lesmona gehörte und gegenüber auf der anderen Straßenseite (Am Kapellenberg) lag, nie Angst haben mußten zu verhungern. Es war zwar stets was zu beackern, aber dadurch auch immer was zu essen da. Wenn ich noch an die frisch vom Strauch gepflückten Tomaten, Erdbeeren, Stachel-, Brom- und Himbeeren denke, läuft mir heute noch das Wasser im Mund zusammen. Wurzeln, so aus der Erde gerupft, nur ein bißchen abgewischt, waren ein Gedicht, wie auch Kohlrabi, frische Erbsen usw. usw.
Dazu hatte mein Gärtner-Onkel Heini ein herrliches Pfingstrosenbeet neben dem Gewächshaus angelegt und ganz unten, am anderen Ende des Gartens, gab es eine ebenso schöne große Fliederecke in allen nur möglichen Farben und Sorten. Nach Burgdamm, wo meine Mutter herkam, fuhren wir
- damals noch in mit Birkenzweigen geschmückter Kutsche - zu Omas Geburtstag und zu Pfingsten stets mit Riesen- Flieder- oder Pfingstrosensträußen bewaffnet, die dort auch sehr bejubelt wurden. Und an ein ganz wunderschönes Azaleenbeet erinnere ich mich noch, das mein Onkel zwischen dem späteren Eingang zum Bunker (2) und dem Haus Lesmona errichtet hatte. Ein Ableger davon wächst heute noch in unserem Garten An der Aue. Bei dem Anblick dieser Azalee und überhaupt bei allem, was schön blüht und in seiner ganzen Pracht erstrahlt, denke ich immer an ihn, meinen Lieblingsonkel und wie gut er mit Blumen und Ptlanzen aller Art umgehen konnte. Deshalb nehme ich auch wohl so gern an den Gärtnerfahrten vom Vegesacker Stadtgarten- und Verschönerungsverein teil, wo dafür gesorgt wird, daß wir Schlösser, Schloßgärten und schöne Park- und Gartenanlagen in Hülle und Fülle sehen. Ende Juni/Anfang Juli d.J. steht wieder eine solche Fahrt an, die uns diesmal nach Dänemark führt. Ich freu mich schon auf die am Rande mitzunehmenden schleswigholsteinischen Wasserschlösser und dann auf die dänischen Schlösser und Schloßgärten.

Was meinen Onkel betrifft, endete es damit, daß meine Oma leider irgendwann im
Sommer 1944
- Ende Juni soll es gewesen sein - einen Alptraum hatte und am nächsten
Morgen der Familie erzählte: "Hüt Nacht hätt Heini mi roopen". Viele Jahre später hat ein
Brief des Feldmarschalls von Lützow bestätigt, daß er mit ziemlicher Sicherheit genau in
dieser Nacht bei Rückzugsgefechten im Raum Mogilew, wo er am Nachmittag des
27. Juni 1944 zuletzt lebend gesehen wurde, mit vielen anderen Kameraden seines
Regiments gefallen ist.

Meine kleine Oma, die ohnehin nur noch im Lehnstuhl von einem Ort zum anderen getragen werden mußte (sie soll einen schleichenden Krebs gehabt haben) hat sich zusehends immer mehr und mehr zurückgezogen und Ende des Jahres 1944 verstarb sie dann ganz still und leise. So hat das Lehen ihr wohl auch keinen Spaß mehr gemacht. Ihr "Blumenjunge" war nicht mehr, der ihr immer solch schöne Sträuße gebunden hatte und dessen Tod sie nun auch nicht mehr verkraften konnte und wollte.

Und für meine Mutter kam dazwischen, daß mein Vater, der zwar u.a. auch an der Ostfront gedient hatte, selten einmal auf Fronturlaub zu Hause war, schließlich und endlich zuerst in einem amerikanischen Gefangenenlager am Rhein landete und bei der Aufteilung an die Franzosen ausgeliefert wurde, von wo er dann erst 1947 aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Und so ging es dann immer weiter. Immer, wenn gerade etwas gut zu laufen schien, kam irgend etwas dazwischen. Aber darüber später......

 


Familie - Geschwister - (damals auf dem Hof von Lesmona ) 60. Geburtstag des Bruders

Wenn der "kleine" Bruder 60 wird, wirft das Erinnerungen an ganz früher wieder auf:
Am 08. März 1941 wurde er zu Hause als kleiner Schrumpelopa geboren (sein Gesicht bestand nur aus Falten und erinnerte an seinen eigenen Urgroßvater)
- sagten jedenfalls seine Mutter und die Erwachsenen rundherum. Das war aber nur der allererste Eindruck, und im Freien entwickelte er sich schnell zu einem Knuddelbaby, auf das allerdings vom ersten Moment an gut aufgepaßt werden mußte, denn alle Tiere hatten ihm "zum Fressen" gern. Zum Glück lebte Opa noch, der auf mein Alarmgeschrei hin immer rechtzeitig mit seinem Handstock zur Stelle war und sowohl den beißenden Ganter als auch die den Stammhalter auf die Hörner nehmende Kuh energisch vertrieb.

Wie gut, daß wir in unserer Kleinkindcrzeit unseren Opa hatten, der sowohl als Kinderhüter (Babysitter würde man heute sagen) als auch als Hüter des Hauses und Hofes, also als "Mann für alle Fähie" gut zu gebrauchen war. Er selber fand es bestimmt nicht so gut, daß er mit seinem Baugeschäft irgendwann in frühester Hitlerzeit pleite gegangen war, aber für uns hat er dadurch immer Zeit gehabt und war derjenige, der stets genau da auftauchte, wo es brenzlig wurde oder hätte werden können. Oma war stets drinnen zu erreichen, weil sie durch Krankheit schon recht früh an den Lehnstuhl gebunden war, aber Opa hatte draußen alles im Griff. Das war auch gut so, denn alle anderen männlichen Mitglieder der Familie
- unser Vater, Onkel Heini und später auch Cousin Hans waren eingezogen und mußten das Vaterland verteidigen. So war es eben damals zur Kriegszeit und die Familien mußten zusehen, wie sie sich am besten allein durchschlugen.
Wir hatten aber auch eine ganz tapfere Mutter, die, ohne daß jemals jemand eine Klage von ihr hörte, zupackte und einfach alles tat, was getan werden mußte, um ihre Kinder und dazu noch die Landwirtschaft zu versorgen. Den Eindruck haben wir alle von ihr in Erinnerung behalten, daß sie eigentlich das ganze Leben lang pausenlos geschuftet hat. Sie kam Gott sei Dank schon aus einer großen Familie. Sie hatte noch 12 Geschwister, unter denen sie zu der älteren Gruppe gehörte, die für die Jüngeren sorgen mußte. Eine Landwirtschaft mit Fuhrunternehmen war ihr Zuhause. So war sie wenigstens schon gut vorbereitet auf die Dinge, die später auf sie zukamen, was denn auch wohl nur gut so war. Wie hätte es sonst überhaupt funktionieren sollen im Krieg und auch in der Nachkriegszeit, als unser Vater noch in der Gefangenschaft war und erst 1947 aus Frankreich zurück kam. Bis dahin versorgte Mutter alles, was nach ihr schrie, allein: ob das die Kinder waren, das Vieh, Haus und Hof, Land und Leute, die in Not waren und an die Tür klopften. Wenn es sein mußte, wurde eben allein gemistet, geheut, das Feld bestellt, das Pferd angespannt und eingefahren, was eingefahren werden mußte. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie jemals krank war
- doch später, ein einziges Mal, als wir Kinder schon größer waren und sie sich eine Grippe leisten konnte, wie es landläufig hieß. Was haben wir es doch heute gut dagegen! In Urlaub fahren - da war weder damals für unsere Mutter dran zu denken noch später, weil eben immer noch Tiere zu versorgen waren und das Geld sowieso immer knapp war. Solchen Leuten müßte ein Denkmal gesetzt werden, allein schon für´s Durchhalten in harten Zeiten
Meinen kleinen Bruder habe ich damals -im
Gegensatz zu meiner Schwester, die zwei Jahre früher geboren war, also ein Jahr nach mir - mit offenen Armen empfangen. Wir haben dann auch das Leben lang zusammengehalten in Freud und Leid und verstehen uns heute noch selbstverständlicher als mit unserer Schwester. Bei gelegentlichen Launen ihrerseits zwinkern wir uns nur zu und grinsen in uns hinein. Aber das hat auch alles seine Gründe.
Unsere Mutter hat mir, als ich schon erwachsen war und selber ganz tolle Schwangerschaften durchleben durfte, erzählt, daß alle ihre drei Schwangerschalten fürchterlich waren und sie von der ersten bis zur letzten Minute fast nur gespuckt hat. Bei meiner Schwester kam dann noch hinzu, daß sie in Steißlage und mit der Nabelschnur um den Hals geboren wurde und die Hebamme taktvollerweise die Bemerkung raushieß:
"Da steckt kein Leben drin -
das wird nix". Aber das Entfernen der Nabelschnur und eine kräftige Tracht Prügel brachten eben doch Leben rein und machten dieses süße Baby ab sofort zum Augapfel meiner Mutter. Sie hatte wohl das Gefühl, es der Hebamme zeigen zu müssen. Beim Toben auf dem Hof mit Nachbarskindern sehr viele Jahre später hörte ich meine Mutter mal sagen: "Das hätte die Hebamme mal sehen sollen von wegen kein Leben drin"!
Für mich bestand nur das Problem, daß ich mich seit dem Erscheinen dieses "Augapfels", der zudem noch absolut süß war -
blond und blauäugig (wie die Verwandten aus Vaters Familie) - zurückgesetzt fühlte und mit gehöriger Eifersucht reagierte. Das brachte alle anderen Verwandten auf den Plan, die meinten, mich trösten zu müssen und sich nach Kräften um mich kümmerten (siehe Cousine, Tante, Opa...). Denen bin ich heute noch dankbar, daß sie mich ablenkten und gut beschäftigten. Sonst wäre wohl die Gier nach der Beachtung durch meine Mutter unermeßlich geworden.
Da kam dann die Geburt meines Bruders zwei Jahre später wie eine Erlösung für mich. Das war sofort mein Augapfel und wurde von mir betüdelt und umsorgt und ich als die Älteste habe gern den Aufpaßdienst übernommen. Das ging zumindest so lange bis in die Baracke, die von den Soldaten errichtet worden war, die zur Kriegszeit in unserem Haus und auf Lesmona stationiert waren, Flüchtlinge aus dem Osten einzogen, die einen im Alter zu meinem Bruder passenden Sohn hatten, genannt Bubi. Der wurde ein guter Spielkamerad für meinen Bruder, der seitdem Bübel genannt wurde. Und diese beiden -
Bubi und Bübel - waren wie Max und Moritz, trieben ihre Scherze, spielten zusammen und gingen dann auch Hand in Hand zur Schule. Erst Jahre später - durch die verschiedenen Schulzweige - wurden die beiden dann wieder getrennt, verstehen sich aber heute hei Klassentreffen und dergleichen noch gut und erinnern sich gern an die Bubi und Bübel-Zeit". Und: Die "große Schwester" und der "kleine Bruder" konnten sich so auf ganz natürliche Weise voneinander abnabeln und eigene Wege gehen. Für die mittlere Schwester war nebenan auch eine gleichaltrige Tochter dabei, die sich zumindest für einige Jahre prächtig verstanden, in eine Klasse gingen und auf Lesmona und umzu Versteck und Kriegen, Räuber und Gendarm und alle anderen Kinderspiele spielten, die damals "in" waren und die im Kreise der Nachbarschaft und etlicher Klassenkameraden, die sich dazu gesellten, eine Menge Spaß brachten und uns allen schöne Erinnerungen hinterlassen haben.
Per Zufall traf ich gerade mitten auf dem Vegesacker Grünmarkt die älteste Tochter der Flüchtlingsfamilie aus der an unseren Hof grenzenden Baracke, die ihr Opa schließlich und endlich dem Staat abgekauft hatte, nachdem alle anderen Baracken, die von den Nachrichtenleuten auf Lesmona aufgestellt, später wieder abgerissen worden waren. Wir kamen automatisch wieder auf die alten Zeiten zurück, nachdem ich ihr von meinem Kursus erzählte, in dem ich gerade meine Geschichte aufarbeite. Sie mußte lachen, als ich Bubi und Bübel erwähnte. "Und weißt Du noch", fiel ihr ein, "wir wurden die Stricklieseln genannt und Inge und Annegret die Matschlieseln , weil die beiden am liebsten im Matsch klehten und wir an den Stricklieseln gar nicht aufhören konnten. Sie ist zwei Jahre älter als ich, und wir waren nur ganz kurze Zeit einmal in einer Klasse zusammen, ihr fehlten dann durch Krankheiten viele Schulstunden und sie ging lieber früher ab von der Schule und wurde Verkäuferin. während ich noch die Mittelschule und anschließend die Höhere Handelsschule absolvierte, bevor ich in den Beruf ging. Die Baracke hat es dann irgendwann -
sehr viel später - nicht mehr gegeben. Alle Kinder waren aus dem Nest, die Eltern verzogen, nur Oma und Opa Albrecht hielten darin aus, solange es ihnen die Gesundheit erlaubte. Heute sind auch sie nicht mehr. Sie waren aber sehr liebe nette alte Leute, zu denen jeder gern mit seinen Sorgen und Nöten kommen konnte und die bei allen, die sie kannten, einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.

Aber das passierte alles erst nach dem Kriege. Da gibt es noch einige dramatische Sachen, die mir aus der Kriegszeit in unauslöschlicher Erinnerung geblieben sind. Wie schon erwähnt, war auf Lesmona der Nachrichtendienst stationiert -
so auch bei uns auf dem Hof im Balkonzimmer. Unsere damaligen Gegner, die Engländer und die Amerikaner, hatten ganz offensichtlich davon Wind bekommen, denn Lesmona wurde ein begehrtes Bombenziel. Unter dem Höhenzug von Lesmona befand sich ein Bunker, der einen Eingang vom Hof aus hatte, einen Geheimgang vom Haus Lesmona selber aus und einen Ausgang zur Lesum hin. Bei Fliegeralarm rannte natürlich alles in Richtung Bunker und man merkte bei solchen Gelegenheiten erst, wie viele Leute es in St. Magnus zu der Zeit doch schon gab. Auch unser Haus hatte einen riesigen Keller, der normalerweise als Lagerraum für Kohlen, Kartoffeln, Rüben, Obst, Gemüse, Eingewecktes und alles diente, was für einen Wintervorrat Platz brauchte. Aber in den Bomben- alarmzeiten waren auch bei uns im Keller lange Reihen von Klappbänken aufgestellt, auf denen sich die engere Nachbarschaft mit vielen Kindern tummelte. Wer mochte, wurde von meiner Mutter mit heißer Milch versorgt, und die Eltern nahmen es für ihre Kinder dankbar an. Seit Anfang 1944 ging ich zur Schule und weiß noch, wie schweißgebadet vor Angst ich bei den ersten Alarmtönen losrannte, um so schnell ich nur konnte in den rettenden Keller bzw. Bunker zu gelangen. Einmal - mein Vater mußte wohl Fronturlaub gehabt haben - kam er mir schon an der Pforte entgegen, warf mir seine Soldatenjacke über, und wir rannten gemeinsam im Splitterhagel in den Bunker. Die andern waren schon in Sicherheit, denn sie gingen ja noch nicht zur Schule. Als die Luft wieder rein war, stellte man fest, daß genau über dem Bunker ein tiefes Kraterloch klaffte. Der Bunker war Gott sei Dank tief genug, und es hat keine Toten und Verletzten gegeben.
Ein anderes Mal waren die Flugzeuge schon so nahe, daß wir nur schnell noch in den eigenen Keller wollten. Meine Oma wurde wie immer in ihrem Lehnstuhl getragen und meine Cousine, die mit einem Gelenkrheumatismus, den sie sich als BDM-Schülerin zugezogen hatte, nach Hause gekommen war, sollte auf einer anderen Trage in den Keller verfrachtet werden. Und als wir uns alle noch im Flur von der Kellertür befanden, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und wir wurden allesamt von einem gewaltigen Sog die Treppe hinuntergezogen und landeten dort unten im Pulk, was aber unser Glück war, denn zur gleichen Zeit wurden oben Fenster und Türen aus den Angeln gerissen und flogen sich gegenseitig um die Ohren. Bei Schadensaufnahme wurde dann festgestellt, daß die Bombe, die unser Haus hätte treffen sollen, einen tiefen Krater in die Bergstraße gerissen hatte, die heute "Am Kapellenberg" heißt und mit dem alten Kopfsteinpflaster noch fast genau so aussieht wie früher. Ein weiteres Kraterloch wurde dann noch nebenan in Nachbarsgarten entdeckt. Also muß es wohl wirklich einer auf uns abgesehen gehabt haben! Wir aber waren zwar alle mit einem gehörigen Schrecken, aber sonst unbeschadet davongekommen. Mit anderen Worten: Wir hatten alle einen guten Schutzengel -
oder sollten wir uns alle bei dem Piloten da oben bedanken, der die Bomben lieber in Gärten, Straßen und Berge versenkte als direkt auf uns arme Menschlein zu zielen ?

 


Begegnung mit einem besonderen Menschen - oder auch: Gedanken zur eigenen Geburt

Es war am 7. Februar d.J., meinem Geburtstag. Ich wollte mich gerade schnell noch mal "aufs Ohr legen" (wie mein Mann immer so schön sagt), um am Abend für die Feier und die Gäste gerüstet zu sein. Da klopfte es an der Haustür und draußen stand als Überraschungsgast: meine Cousine aus Amerika. "Das kann doch wohl nicht wahr sein", entfuhr es mir, denn vor ein paar Tagen hatten wir noch miteinander telefoniert, und es gab weit und breit angeblich keinen Flug mehr nach Deutschland. Sie war gerade zurückgekommen von einem dreiwöchigen Urlaub in Mexico und wollte sich eigentlich erstmal wieder in Port Angeles, ihrem derzeitigen Domizil, akklimatisieren. Und nun stand sie da -
braungebrannt, lachend und gut aussehend. Sie hatte über ihren Neffen, der bei der Lufthansa Canada arbeitet, einen Restplatz ergattert, dazu noch sündhaft billig. Was blieb ihr anderes übrig ... neugierig auf die Ansammlung von Verwandten und alten Bekannten, die sich an solch einem Geburtstag immer einfinden, war sie schließlich auch. Da war sie nun und traf gleich einen gemeinsamen Punkt:
Die Schneeglöckchen, von denen die ersten, die den Platz an der Sonne haben, sie vor dem Haus bereits begrüßten, und alle übrigen auch ganz keß ihre Nasen hervorstreckten. "Ach wie schön", rief sie, "die Schneeglöckchen blühen -wie zu Deiner Geburt"! Nun hatte ich das schon öfter im Laufe des Lebens gehört, aber eben nicht immer, denn in kalten Wintern blühen sie eben nicht schon am 7. Februar, sondern je nach Temperatur erst später. Also muß der Winter 1938 recht mild gewesen sein, denn zu meiner Geburt brachte meine Cousine meiner Mutter einen dicken Schneeglöckchenstrauß, selbstgepflückt auf Lesrnona, ins Krankenhaus. Da, auf dem Hof, dem ehemaligen Gutsmeierhaus von Lesmona, wohnten damals meine allernächsten Familienangehörigen: Opa, Oma, Vater, Mutter, Onkel, Tante, Cousin, Cousine (eben diese), eine Menge Kleinvieh (Hühner, Emiten, Gänse, Schafe, ein paar Kühe und ein Pferd, das Puppe hieß und uns allen eine ganze Menge von Jahren treue Dienste geleistet hat). Dazu noch ein Zwinger voller Schäferhunde, die mein Lieblingsonkel Heini züchtete, der leider im Krieg blieb (meine Cousine und ich wollten immer noch mal nach Stalingrad, von wo aus das letzte Lebenszeichen von ihm kam), und mit ihm verschwanden auch irgendwann die Schäferhunde. Dieser Onkel war es auch gewesen, der als gelernter Gärtner die damals freie Hofmeierstelle auf Lesmona bekam und der für die Pflege und Instandhaltung des Geländes zuständig war. Spätet wurde es von meinem Opa und, nachdem mein Vater 1947 aus französischer Gefangenschaft zurückkam, von diesem übernommen.

Es waren gemütliche Kindheitstage -
dort auf dem Hof von Lesmona - geborgen im Schoße der Großfamilie, umgeben von kuscheligen Tieren und wunderschöner Landschaft. Und jedes Jahr am 7. Februar werde ich wieder an die blühenden Schneeglöckchenherge erinnert, die zu meiner Geburt in voller Pracht gestanden haben sollen! Meine damals dreizehnjährige Cousine verkündete auf dem Weg zur Schule freudestrahlend meine Geburt (St. Magnus war zum Glück noch sehr klein) und daß die Schneeglöckchen blühen!

 


Tiere in meinem Leben
- Schafe auf dem Hof von Lesmona .


In eine Welt mit Tieren wurde ich schon hineingeboren -
damals auf dem Hof von Lesmona. Neben dem Kleingetier, wie Hühner, Enten, Gänse gab es eine Horde von Schafen. Die meisten davon waren ganz gewöhnliche Tiere - eben Schafe. Bis auf ein einziges. Das mußte mit der Babytlasche aufgezogen werden, weil die Mutter die Geburt nicht überlebt hatte. Das hieß von Anfang an "Lämmi", und das blieb auch so, als es groß und ausgewachsen war. Den "Mix" für die Babyflasche bereitete meine Mutter zu. aber die Aufgabe des "Stillens" wurde mir als der Ältesten übertragen, wie ich überhaupt heute noch das Gefühl habe, daß die Ältesten immer für alle und alles verantwortlich sind. Aber dem Lamm die Flasche zu geben, das tat ich jedenfalls gern. Ich fühlte mich gebraucht und fand es gemütlich, neben einem Tier zu sitzen und es zu betüdeln. Dieses Lamm war ein kleiner Wildfang, Es stürzte sich mit Heißhunger auf die Flasche, zerrte und schubste daran herum (wie es die übrigen Lämmer mit den Eutern der Mutterschafe taten), so daß ich genug damit zu tun hatte, ihm die Flasche immer mundgerecht hinzuhalten. Stolz war ich jedes mal, wenn wir beide die Prozedur heil überstanden hatten. Manchmal - wenn ich es zuließ - verfolgte mich der kleine Nimmersatt bis in die Küche und verlangte blökend nach mehr. Über die Einteilung der Portionen verfügte aber meine Mutter, sonst hätte es auch wohl schon in seinen frühen Wochen einen Knall gegeben und der Bauch wäre geplatzt.

Das Lamm wurde durch diese Sonderbehandlung anhänglicher als alle anderen Schafe. Es hat mich als seine Bezugsperson auserkoren -
und basta. Ich war seine Ersatzmutter. Alle anderen interessierte es gar nicht. Es verfolgte mich auf Schritt und Tritt, und es mußte immer jemand Wache stehen, wenn ich zur Schule ging, damit das Lamm nicht mit in die Klasse kam. Nachdem ich es eines Nachmittags gewähren ließ, verfolgte es mich bis zum Bäcker, wartete vor der Tür bis ich wieder rauskam und sprang fröhlich wie ein kleiner Hund neben mir nach Hause, während die Hunde draußen auf dem Hof in der Sonne dösten. Die zeigten überhaupt keine Gelüste, den Hof zu verlassen. Zum Glück, denn sonst wäre ich wie der Rattenfänger von Hameln mit den Tieren durchs Dorf marschiert. Beim Bäcker fand man es so lustig, daß ich mit dem Lamm dort erschien - das tat sonst keiner und das war noch nie passiert - daß ich ab sofort meine Bäckerwege immer in "Schafs" Begleitung machte. Dann passierte es eines Tages - bei wunderschönem Frühlingswetter und oft enstehender Bäckereitür -. daß meine dreiste Begleitung mit in den Laden kam und - einem dringenden Bedürfnis folgend - einen dicken Ködelhaufen mitten in den Laden setzte. Da war "Schluß mit lustig" und ab sofort durfte mein Lieblingsschaf den Hof nicht mehr verlassen. Eigentlich schade, denn richtig gemütlich waren die Einkaufswege in Schafsbegleitung!

 


Nur ein Wispern in den Bäumen


Es war einmal ein Märchen, das sich um die Jahrhundertwende -
na, ein wenig später - auf Lesmona abspielte. Marga Berck hat es in ihrem Büchlein "Sommer in Lesmona", das vorwiegend Mädchenbriefe an die beste Freundin enthält, festgehalten. Es handelt sich um die bittersüße Liebesgeschichte zwischen ihrem englischen Halb- Vetter Percy und ihr (in dem Buch: Magda). Die Namen sind Pseudonyme, denn beide stammten aus berühmten Bremer Kaufmannsfamilien mit Abzweigungen nach England und in die weite Welt, und das wollte Magda damals nicht preisgeben.

Inzwischen gibt es aber einen weiteren Lesmona -Band von Bernd W. Seiler (Joh. Heinrich Döll Verlag) unter dem Titel "Es begann in Lesmona
- Auf den Spuren einer Bremer Liebesgeschichte", in dem, wer will, sich genauestens aufklären lassen kann über alle Beteiligten mit Stammbäumen bis in den letzten Winkel und Familienfotos und Fotos von Geschäfts- und Wohnhäusern eben der weitverzweigten und untereinander verwandt und verschwägerten Bremer Kaufmannsfamilien.

Das alles ist sehr interessant, aber mir haben die schlichten und einfachen Liebesbriefe am besten gefallen. Als ich sie das erste Mal las, war ich selbst ein junges Mädchen und sehr empfänglich für die zarten Töne und noch mehr für die traurigen. Verstehen konnte und wollte ich wohl nicht, weshalb sie (die Magda) den Mann, den sie liebte und der auch sie heiß und innig liebte, nicht nahm und stattdessen aus Vernunftgründen sich mit einem um etliche Jahre älteren angeblich "passsenderen" Mann verlobte, und ihn schließlich nach herzzerreißenden Wiedersehensgeschichten mit Percy in England auch heiratete. Sie soll zwar später eine sehr interessante Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, mit dem Direktor der Bremer Kunsthalle zwischen Kunst, Kirche, Kindern und eingehüllt in einen großen Freundeskreis geführt haben, aber Percy, ihre große Jugendliebe, nahm sich im Alter von 40 Jahren in Amerika das Leben.

Als ich das irgendwann einmal erfuhr, kamen mir die Tränen, und seitdem ist Lesmona für mich trotz aller Schönheit und vieler guter Erinnerungen mit einem Hauch von Trauer und Tragik verbunden. Jedes Jahr wieder, wenn in Knoops Park der "Sommer in Lesmona" abläuft, denke ich, wie bestimmt viele andere Menschen auch, an "Magda und Percy" und daß es schön ist, daß wenigstens heutzutage -
viele Jahre nach ihrem Tod und vielleicht, weil sie im Leben nicht zusammenkommen konnten - ihre ureigene Geschichte wieder autlebt und wir alle sie - ihnen zu Ehren - in schönster Umgebung bei herrlicher Musik und wunderbarer Stimmung miterleben dürfen.

Und wer genau hinhört und ein "Faible" dafür hat, macht es wie meine Cousine und ich, wandert durch den Park, sucht die Stellen, von denen er meint, daß eben dort Percy und Magda ihre Liebe erlebt haben, und wenn er Glück hat, kommt ein Windstoß und es wispert in den Baumkronen. Wenn das kein Zeichen ist! Wettemt daß heute ihre Seelen dort vereint sind, wo alles einmal so schön begonnen hat!

 


Trauer und Tragik

Zu dem Hauch von Trauer und Tragik, der Lesmona umweht, paßt eine Geschichte, die wir alle später einmal erlebten, als Lesmona, nachdem es etliche Jahre zur Lungenheilanstalt umfunktioniert und der Hof durch hohe Zäune vom eigentlichen Haus Lesmona abgetrennt war, anschließend Auffangstation für sog. schwererziehhare Jugendliche wurde. Von diesen Jugendlichen bekam hin und wieder ein junger Mensch, der- schon stark genug war, die Gelegenheit, unten bei uns in der Landwirtschaft mitzuhelfen. Wie ich mich erinnere, taten diese Jungen das ausgesprochen gern. Erstens konnten sie zeigen, daß sie schon zu etwas nütze waren und zweitens hatten sie Familienanschluß, das, was sie häufig im eigenen Elternhaus vermißten. So saßen sie denn mit am Tisch und erzählten ihre Geschichten. Da konnten einem schon mal die Tränen kommen. Ganz besonders erinnere ich mich an einen netten jungen Mann der Klaus hieß. Nachnamen gab es damals nie zu diesen jungen Leuten oder- ich erinnere mich nicht mehr. Dieser Klaus sah gut aus, war für sein Alter schon groß und stark (er muß wohl so 14, 15 oder 16 gewesen sein) und kam aus einer Seemannsfamilie, von der nur noch die Mutter übrig geblieben war. Sie mußte sich allein durchschlagen und kam wohl mit ihrem Sohn nicht mehr klar. Auf keinen von uns
hat er jedenfalls jemals einen schwer erziehbaren Eindruck gemacht. Gut zupacken konnte er in der Landwirtschaft, sah von sich aus, was getan werden mußte, war zutraulich, froh, daß er mit am Familientisch Platz nehmen durfte und für ihn hätte es so weiter gehen dürfen. Er konnte gut erzählen und hat zu seiner Zeit richtig Schwung in die Familie gebracht. Für mich war er wie ein weiterer "kleiner Bruder" und da mein eigener Bruder schon in der Lehre und auf Montage war, war mein Vater für jede Hilfe dankbar, die von "oben" kam, d.h. aus dem Hause Lesmona. Leider war es so, daß nach mehr oder weniger kurzer Zeit diese Jungen von Amts wegen eine Lehrstelle, einen Ausbildungsplatz o.ä. zugewiesen bekamen und sie uns wieder verlassen mußten, oft schweren Herzens. Ganz besonders dieser Klaus. Man hatte für ihn einen Platz auf einem Schiff gefunden, das nach Australien ging. Nach seiner Herkunft war das ja auch naheliegend, und eigentlich wollte er auch wohl gerne zur See fahren. Aber er hatte gerade so etwas wie eine Heimat bei uns gefunden und fühlte sich wohl. Er hat meinen Vater gefragt, ob er nicht einfach dableiben und Bauer werden könnte. Aber das ging nun ganz einfach nicht. Mein Vater hatte zwar selbst eine landwirtschaftliche Ausbildung hinter sich, aber einen Ausbildungsbetrieb hatte er nun wirklich nicht. Außerdem war wohl mein Vater genau wie der Leiter des Heimes fest davon überzeugt, daß der Junge schon "auf dem richtigen Weg" sei bei der christlichen Seefahrt. Also gab es einen tränenreichen Abschied mit dem Versprechen, mal eine Karte aus Australien zu schicken und überhaupt was von sich hören zu lassen. Zu unser aller Schmerz und Entsetzen kam dann sehr viel später vom Kapitän des Schiffes die Nachricht, daß der Junge sich eine ansteckende Krankheit zugezogen hatte und aus lauter Verzweiflung nach Ablegen des Schiffes in Australien über Bord gegangen sei. Er muß wohl keinen anderen Ausweg mehr gesehen haben. Es hat uns alle schrecklich mitgenommen und mit ihm ging dann auch die Ara der Hilfe von "oben" zu Ende. Das Heim wurde danach irgendwann aufgelöst, und es begann wieder eine ganz andere neue Ära Lesmona.

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